Die Aufnahme der drei Wissenschaftler, die sich konzentriert diskutierend um eine PDP-12 versammelt haben, ist das älteste der 15 Fotos an der Bockenheimer Warte. Entstanden ist es im März 1977[1], zusammen mit mindestens einem weiteren Motiv, das Barbara Klemm in derselben Situation aufgenommen hat. Veröffentlicht wurde letzteres Foto, das der Aufnahme im U-Bahnhof stark ähnelt, schon einen Monat später in „Bilder und Zeiten“.[2] Es diente zur Illustration eines Gastbeitrags für die Tiefdruckbeilage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von Heinz Maier-Leibniz, dem damaligen Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft, unter dem Titel „An der Grenze des Unbekannten. Vom Sinn und Ziel der Forschung“. Bei der Auswahl für die Bockenheimer Warte bestand die daran beteiligte Fotografin neun Jahre später dann allerdings auf dem Motiv, das die drei Porträtierten wesentlich besser ins Bild setzt.[3]

Die Aufnahme, die an der Bockenheimer Warte zu sehen ist
Die Bildunterschrift aus der FAZ-Beilage von 1977 gibt schon den Hinweis auf den Ort der Entstehung der Fotos: „Forschungsteam am Zoologischen Institut der Universität Frankfurt. Zoologen, Biophysiker und Ingenieure untersuchen gemeinsam die Nervenreaktionen von Tieren, Foto Barbara Klemm“. Der Name des Forschungsteams, von dem da die Rede ist, lautete „Arbeitskreis Neuro- und Rezeptorphysiologie“[4], geleitet wurde es von Professor Gerhard Neuweiler. Nach Frankfurt gekommen war es 1972 an die Goethe-Universität aus Tübingen, nachdem Neuweiler eine Professur für Zoologie in Frankfurt angenommen hatte.[5] Gerd Schuller, Hermann Schweizer und Hans Zöller[6] – die drei Forscher auf dem Bild – hatten schon in der Stadt am Neckar zum Team um den Zoophysiologen gehört und waren zusammen mit ihm an den Main übergesiedelt.
Ihr wissenschaftliches Untersuchungsgebiet war das „Echoortungsverhalten der Fledermäuse“. Schuller, der sich als frischgebackener Tübinger Doktorand und akademischer Rat in die Frankfurter Wissenschaftlergemeinde einreihte und später zusammen mit einem weiteren Forscher aus der Gruppe und Neuweiler die „akustische Fovea“, den Biosonar bei bestimmten Fledermausarten, entdeckte[7], war für die Neurophysiologie (Ableitung der Hirnströme) zuständig, während sich Schweizer vor allem der Anatomie (Verschaltung zwischen Ohr und Cortex) widmete.[8]

Im Vergleich: die Aufnahme aus der FAZ vom März 1977. © Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Barbara Klemm
Zöller wiederum war der Computerspezialist des Teams. Zu seinen Aufgaben gehörten das Schreiben von Programmen und die Betreuung des von den Forschern genutzten Computers, einer der ersten, von der us-amerikanischen Firma Digital Equipment entwickelten Workstations. Mit diesem (von Hans Zöller als Laborrechner PDP-12 identifizierten[9]) Gerät, von dem die Tastatur und ein Teil des Monitors auf dem Foto zu sehen sind, konnte man in Echtzeit elektrische Signale empfangen, messen, speichern und verarbeiten (etwa zur Darstellung der Hirnaktivtäten der Fledermäuse). Auch als digitaler Rechner zu benutzen, war es quasi ein Vorläufer des PC, obwohl es noch keine grafische Benutzeroberfläche hatte. Zöller hatte als Student der elektrischen Nachrichtentechnik in Stuttgart an einem der ersten Rechner von Digital Equipment gearbeitet und programmiert, sich dort aber noch Rechnerzeit mit anderen Nutzern teilen müssen. Schließlich erhielt er Zugriff auf ein gleiches Modell in Tübingen, als Gegenleistung schrieb er für die dortigen Forscher um Neuweiler Programme. Als die Gruppe nach Frankfurt wechselte, ging Zöller als Wissenschaftlicher Mitarbeiter ebenfalls an die Goethe-Universität. Er arbeitete bis November 1998 im Fachbereich Biologie und nahm dann eine Stelle am Universitätsrechenzentrum an, wo er Leiter der Abteilung Netzwerktechnik und Telefonie wurde. Ab Ende 2007 bis zu seiner Verabschiedung in den Ruhestand am 31. Dezember 2010 war er stellvertretender Leiter des Rechenzentrums; im Jahr darauf gründete er ein Unternehmen, das Beratung in den Bereichen Netzwerktechnik, Telekommunikation und IT anbietet. Dass er auf dem Bild im U-Bahnhof zu sehen ist, erfuhr er relativ schnell nach der Eröffnung der Station Bockenheimer Warte. Zöller kann sich nicht mehr genau daran erinnern, ob er es zuerst selbst sah (er fuhr häufiger mit öffentlichen Verkehrsmitteln vom Biologie-Campus in die Mensa gegenüber der Warte) oder von einem Kollegen oder Freund darauf hingewiesen wurde. Im Lauf der Jahre hörte er dann immer wieder die Fragen „Sind Sie das auf dem Foto?“ oder „Bist du da in der U-Bahnstation zu sehen?“. Auch heute, nach seiner Pensionierung, kommt er hin und wieder nach Bockenheim – und immer, wenn er das Foto sieht, denkt er: „Das ist nach wie vor ganz hübsch.“[10]
Schweizer schloss 1978 noch in Frankfurt seine Promotion zum Thema „Anatomie der Fledermaus“ in Frankfurt ab. Er wechselte seinen Worten zufolge nach 1981[11] mit Neuweiler und Schuller an die Ludwig-Maximilians-Universität München, wo er eine Anstellung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter fand, sich weiter auf das Thema Tieranatomie konzentrierte und in der Lehre tätig war. Dort arbeitete er bis 2004, als er in Ruhestand ging, weiter mit Schuller am selben Institut (dem Dept. Biology II, Division Neurobiology in Planegg-Martinsried[12]). Bis 2012 war Schweizer am Fachbereich Biologie der LMU aktiv, betreute u.a. die Fachbereichsbibliothek und half beim Umzug des Fachbereichs nach Martinsried.[13]
Laut Schullers Erinnerung[14] ging er 1981 oder 1982 mit der Gruppe unter Neuweiler nach München ans dortige Zoologische Institut. Er hatte bis 2008, dem Jahr, in dem er emeritiert wurde, eine Professorenstelle an der LMU inne, war aber danach „keineswegs im Ruhestand“, sondern arbeitete weiterhin wissenschaftlich. Schon während seiner Zeit mit Neuweiler hatte er Kontakte zur Universität Madurai in Indien aufgebaut: Es kam damals zu einer Kooperation zwischen Madurai und München und dem Aufbau verschiedener Projekte in Forschung und Lehre. Diese von der DFG und der Humboldt-Gesellschaft geförderte Kooperation dauerte bis Mitte der 1980er Jahre. Später, zwischen 2009 und 2015, gab Schuller 14-tägige Sommerkurse für eine Gruppe von ca. 20 Studenten zu den Themen Neurophysiologie und -anatomie sowie Psychophysik. Dass das Foto im U-Bahnhof Bockenheimer Warte hängt, ist Schuller bekannt. Da die Familie seiner Frau aus Frankfurt kommt, war er häufig in der Stadt und konnte sich das Foto selbst anschauen. „Mich wundert es, dass es noch da hängt.“ „Die Frankfurter Zeit war eine meiner besten“, war sein Resumee im Gespräch mit den Stadtteil-Historikern.
Auf eine Besonderheit der multidisziplinären Gruppe um Neuweiler, die übrigens noch aus weiteren Wissenschaftlichen Mitarbeitern und Studentinnen und Studenten bestand und mit renommierten Forschern als Gästen kooperierte,[15] wurden die Stadtteil-Historiker sowohl von Hans Zöller als auch von Gerd Schuller aufmerksam gemacht: Auf Initiative Neuweilers hatte sie sich ein für damalige Zeiten fortschrittliches Statut gegeben, das alle Mitglieder als gleichberechtigt ansah; in wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlichte Artikel sollten nicht allein im Namen des Hochschullehrers, sondern der gesamten Arbeitsgruppe erscheinen – was sich laut Zöller allerdings nicht immer durchsetzen ließ, da Herausgeber und Redaktionen der Publikationen dem Ansinnen oft nicht entsprechen wollten. In der Präambel des Statuts sei darüber hinaus festgelegt worden, dass die Forschergruppe keine wissenschaftlichen Ergebnisse für militärische Zwecke zur Verfügung stellen würde (was bei dem von der Gruppe behandelten Thema möglich gewesen wäre, Erkenntnisse aus benachbarten Forschungsfeldern, z.B. zum Hörsystem von Delfinen, wurden laut Zöller durchaus in diesem Sinne nutzbar gemacht).[16] Hermann Schweizer schränkte in seinem Gespräch auf das Thema angesprochen allerdings ein, die Forschungsergebnisse seien „sowieso nicht (besonders) fürs Militär geeignet“ gewesen, obwohl er sich wiederum an Kontakte vor allem zu us-amerikanischen Wissenschaftlern aus der Zeit erinnern kann, die „dem Militär nicht ganz fremd“ waren.[17]
Von der schon in Tübingen von Neuweiler „mit dem Idealismus und Eifer der 68iger“ entworfenen und umgesetzten „wirklich revolutionären Arbeitsgruppensatzung, nach der alle anstehenden Entscheidungen per Mehrheitsabstimmung geregelt wurden“, sprechen auch Benedikt Grothe und Hans-Ulrich Schnitzler in ihrem Porträt des Zoologen und Fledermausforschers. Das „Experiment einer demokratisch geführten Arbeitsgruppe auf Ebene eines Lehrstuhls“ sei dann in Frankfurt weitergeführt worden.[18] Nicht allein mit Idealismus und Eifer, sondern mit ätzender Kritik hatte Neuweiler übrigens schon 1967 die Zustände in den alten Ordinarienuniversitäten der BRD aufs Korn genommen und sich für eine „Reform von außen oder von unten“ ausgesprochen.[19] Gerd Schuller wählte mehr als 50 Jahre später ähnliche Worte, als er die Atmosphäre beschrieb, in der die Satzung entstand: Die noch Ende der 1960er Jahre an den deutschen Universitäten herrschenden hierarchischen Strukturen mit den Ordinarien an der Spitze hätten „Gott sei Dank“ die Folgezeit nicht mehr überdauert. Das Fühlen und Denken der 68er habe die Verabschiedung des Statuts „ins Rollen“ gebracht, das Foto im U-Bahnhof Bockenheimer Warte atme noch etwas vom Geist der 68er.[20]




Alter Biologie-Campus an der Siesmayerstraße in Frankfurt: vier Ansichten vom Zustand der Gebäude im Jahr 2024. © PA/MK
Unvollständig bliebe der Rückblick auf das Foto der drei Forscher, ohne näher auf den Ort einzugehen, an dem es entstanden ist: ein Laborraum im ersten Stock des Zoologischen Instituts auf dem Biologie-Campus zwischen Palmengarten und Grüneburgpark, „einem Kramer-Bau“[21]. Zu dem Ensemble an der Siesmayerstraße 70–72 zählten außerdem die Institute für Anthropologie, Botanik und Mikrobiologie sowie Hörsaalgebäude, Gewächshäuser, Labor- und Wirtschaftstrakte. Zöllers Bezeichnung gibt den Hinweis auf den Architekten, der sie Anfang der 1950er Jahre geplant hatte: Ferdinand Kramer. Der Biologische Campus war der erste Auftrag zum Bau neuer Hochschulgebäude in Frankfurt, der Kramer schon 1952 kurz vor seiner Berufung zum Baudirektor und Leiter des Bauamts der Goethe-Universität im selben Jahr erteilt worden war. Heute, zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Fotochronik, stehen die größtenteils nicht mehr der Öffentlichkeit zugänglichen Gebäude seit nunmehr 13 Jahren leer und sind allmählich dem Verfall preisgegeben – die Biowissenschaften hatten 2011 ihr altes Gelände verlassen und waren auf den Campus Riedberg gezogen.[22]
[1] Persönliche Aufzeichnungen Barbara Klemm.
[2] Frankfurter Allgemeine Zeitung, Bilder und Zeiten, Rubrik „Ereignisse und Gestalten“, Samstag, 16. April 1977.
[3] Einer der Interviewpartner der Stadtteil-Historiker hatte geäußert, das Foto aus der FAZ sei exakt dasselbe wie das im U-Bahnhof. Ein genauer Vergleich der beiden Motive zeigt schnell die Unterschiede.
[4] Mündlicher Bericht Hermann Schweizer, 18.5.2023.
[5] Vgl. Benedikt Grothe, Nachruf Gerhard Neuweiler, https://badw/fileadmin/nachrufe/Neuweiler20Gerhard.pdf, Zugriff 8.4.2024.
[6] Im persönlichen Gespräch befragt, wann die Aufnahme mit ihrer kleinen Diskussionsrunde entstanden sei, gab Gerd Schuller (mündlicher Bericht vom 13.9.2023) erst 1973/74 an, um in einer späteren Mail den Zeitpunkt auf 1976/77 zu korrigieren. Laut Zöllers Angaben (mündlicher Bericht vom 30.3.2023) stammt das Foto bereits aus dem Jahr 1973, er berichtigte ebenfalls in einer Mail (vom 31.3.2023) auf „möglicherweise auch … erst 1974“. Schweizer antwortete auf eine erste Anfrage wegen eines Gesprächs mit „so sah ich und meine Kollegen also vor ca. 50 Jahren in den ,wilden Siebzigern‘ aus. Na ja.“ (E-Mail vom 11.5.2023) .
[7] Vgl. Prof. Dr. Benedikt Grothe und Prof. Dr. Hans-Ulrich Schnitzler, Nachruf auf Gerhard Neuweiler, https://www.zobodat.at/biografien/Neuweiler_Gerhard_Zoologie-Mitt-dtsch-zool-Ges_2010_0067-0073.pdf, Zugriff 8.4.2024.
[8] Mündlicher Bericht Hermann Schweizer, 18.5.2023.
[9] E-Mail vom 25.4.2024.
[10] Mündlicher Bericht Hans Zöller vom 30.3.2023 und Mail vom 25.4.2024.
[11] Laut dem Nachruf auf Gerhard Neuweiler von Grothe/Schnitzler (a.a.O.) nahm Neuweiler den Ruf nach München 1980 an.
[12] Den Namen des Instituts nannte den Stadtteil-Historikern Hans Zöller.
[13] Mündlicher Bericht Hermann Schweizer, 18.5.2023.
[14] Mündlicher Bericht Gerd Schuller, 13.9.2023.
[15] Vgl. Nachruf auf Gerhard Neuweiler, a.a.O.
[16] Mündlicher Bericht Hans Zöller, 30.3.2023.
[17] Mündlicher Bericht Hermann Schweizer, 18.5.2023.
[18] Nachruf auf Gerhard Neuweiler, a.a.O.
[19] „Absolutistische Machtbefugnisse“ hieß der Beitrag, der am 27. Oktober 1967 in der ZEIT erschienen war (https://www.zeit.de/1967/43/absolutistische-machtbefugnisse, Zugriff 8.4.2024) und laut Grothe und Schnitzler heftige Kontroversen ausgelöst hatte.
[20] Mündlicher Bericht Gerd Schuller, 13.9.2023.
[21] Hans Zöller.
[22] Vgl. Ferdinand Kramer. Die Bauten – The Buildings of Ferdinand Kramer, Katalog zur Ausstellung „Linie Form Funktion. Die Bauten von Ferdinand Kramer“ vom 28. November 2015 bis 1. Mai 2016 im Deutschen Architekturmuseum, Tübingen Berlin 2015, S. 116 und S. 141.