Beifall für Alfred Dregger

Als es in der ersten Jahreshälfte 1986 in einer Besprechung zwischen Stadt, Universität und Fotografin um die Auswahl der Motive für die Bildwände an der Bockenheimer Warte geht, ist eines schnell klar: Aufnahmen von studentischen Protesten sollen keinesfalls die Bahnsteigwände (verun)zieren, es soll dort erst gar nicht der Eindruck einer „Radau-Uni“ entstehen. An diese kategorische Aussage der Hochschulleitung konnte sich Barbara Klemm im Gespräch im April 2024 gut erinnern.[1] Umso erstaunlicher ist, dass es ein Foto einer solchen Protestaktion schließlich doch unter die 15 Bilder im ersten Tiefgeschoss des U-Bahnhofs geschafft hat: die Aufnahme des jubelnden und applaudierenden studentischen Publikums anlässlich einer Rede Alfred Dreggers im Mai 1982. Der Beifall für einen Redner als eine gegen ihn gerichtete Demonstration? Dazu einige erklärende Worte.


In Frankfurt war nicht nur die zweite Hälfte der 1960er Jahre von studentischen Protesten mit der Goethe-Universität als Brennpunkt geprägt.[2] Bis in die 1980er Jahre waren vom Unicampus ausgehende Demonstrationen, in die Frankfurter Stadtgesellschaft hineinwirkende Proteste oder mit Seminarraumbesetzungen verbundene Streiks Teil des Hochschulalltags. Getragen und organisiert wurden sie von den Spontis an der Universität, der Undogmatischen Linken bzw. Sozialistischen Hochschulinitiative (SHI), die über lange Jahre allein oder in Koalition mit anderen linken Hochschulgruppen den Allgemeinen Studentenausschuss (AStA) bildete. Die Stadtteil-Historikerin Rosemarie Hassel hat dies exemplarisch für den Frauen-AStA des Jahres 1976/77 beschrieben.[3] Dem rechten Lager zuzurechnende Gruppen wie die Unabhängige Hochschulgruppe oder der Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) mussten sich in dieser Zeit stets mit der Oppositionsrolle im Studentenparlament begnügen und spielten politisch kaum eine Rolle. Dies begann sich Anfang der 1980er Jahre allmählich zu ändern. Zwar stellte auch noch 1982 die SHI, in Koalition mit der Hochschulgruppe der Jungsozialisten (Jusos), den AStA. Die jüngeren Generationen der Studentinnen und Studenten rechneten sich aber nicht mehr selbstverständlich dem linken Protestmilieu in Stadt und Universität zu, die Unterstützung für die SHI bei den Wahlen zum Studentenparlament war am Schwinden. Gleichzeitig neigte sich in der Bundesrepublik das „sozialdemokratische Jahrzehnt“ mit von SPD/FDP gestellten Koalitionen dem Ende entgegen, der viel beschworene Zeitgeist tendierte nicht mehr automatisch nach links.

Diese anfangs eher atmosphärischen Veränderungen nahm man auch aufseiten der konservativen Studentenorganisationen wahr. In dieser Situation stand 1982 für den Frankfurter RCDS das Jubiläum seiner Gründung 30 Jahre zuvor an. Aus diesem Anlass lud sein Vorstand für den 18. Mai den Vorsitzenden der hessischen CDU, Alfred Dregger, zu einem Vortrag an die Goethe-Universität ein. Damit versuchte man aufseiten der Studentenorganisation der CDU nach Jahren der praktischen Bedeutungslosigkeit wieder selbstbewusste Präsenz zu beweisen. In welcher Form diese Veranstaltung im Detail bekannt gemacht wurde, konnten zwei unserer Gesprächspartner, die auf RCDS-Seite an der Organisation beteiligt waren, nur bruchstückhaft rekonstruieren, sie wussten mit Sicherheit, dass sie die Presse – darunter auch die FAZ, die Barbara Klemm als Fotografin in den H VI schickte – informierten.[4] Ein AStA-Info der Undogmatischen Linken (Abb. weiter unten) spricht von einer Mitteilung des RCDS an den Uni-Report und die örtliche Presse sowie von drei Plakaten in der neuen Mensa. Die Ankündigung wurde jedenfalls schnell unter den Spontis bekannt, die daraufhin begannen, in ihrem Plenum Aktionen gegen den Auftritt Dreggers zu planen. Er galt als Vertreter einer besonders konservativen Linie innerhalb seiner Partei und gab sich als Law-and-order-Mann. Nach den Landtagswahlen im September 1982 wollte er die jahrzehntelange Vorherrschaft der SPD in Hessen beenden und Ministerpräsident werden, auf seiner politischen Maßnahmenliste für das Bundesland stand die Abschaffung der verfassten Studentenschaft in ihrer damaligen Form weit oben; zu gern hätte er den sogenannten linken Sumpf an den hessischen Universitäten trockengelegt.

Im SHI-Plenum setzte sich schließlich die Idee durch, Dregger einen unerwarteten – ironischen und spöttischen – Empfang zu bereiten: mit nicht enden wollendem Applaus und Jubel.[5] Dazu lud die SHI in einem in Universität und Stadt verteilten AStA-Info ein.

Flugblatt mit dem Aufruf des AStA. © privat


Mit dem Aufruf bewies die Undogmatische Linke noch einmal ihre Fähigkeit zur Mobilisierung. Der RCDS konnte nicht verhindern, dass sich am 18. Mai der Hörsaal VI mit Publikum aus dem linken Milieu füllte, das den Raum schnell mit den vom AStA verteilten Luftschlangen und Deutschlandfähnchen schmückte. Die Erinnerungen der von uns interviewten Zeitzeugen an die Zahl der Anwesenden schwanken zwischen 1.000 und 2.000.[6] Die Personen auf dem Foto waren damals u. a. Mitglieder der Juso-Hochschulgruppe und der Sponti-Basisgruppen an den Fachbereichen der Goethe-Universität, für die Vielfalt der Besucher, die sich im H VI versammelten, seien auch ein Student aus Darmstadt, eine Studentin der Fachhochschule Frankfurt, ein ehemaliger Soziologiestudent und Studienabbrecher mit neuer Karriere in einem alternativen Handwerksbetrieb oder ein Handelslehrer im Referendariat genannt; ein Sponti hatte Freunde aus Österreich mitgebracht, die ihn gerade in Frankfurt besuchten.[7] Personen, die sich dem RCDS zurechneten, konnten wir auf der Aufnahme nicht identifizieren. Mitglieder der Studentenorganisation saßen und standen aber auf der Bühne, von der aus Barbara Klemm fotografierte, neben und hinter Alfred Dregger. Darunter die schon erwähnten Organisatoren und die Verfasser eines Leserbriefs an die FAZ nach der Veranstaltung, mit denen wir ebenfalls sprachen[8].

Die Erinnerungen an den Ablauf stimmen in einem Punkt bei allen Interviewpartnern überein: Es habe im Hörsaal VI ohrenbetäubender Lärm geherrscht: schon bevor Alfred Dregger das Auditorium betrat – als das Publikum dabei war, sich einzusingen und zu -jubeln. Und erst recht, nachdem er sich den Weg aufs Podium gebahnt hatte. Doch schon bei der Frage, wie der CDU-Vorsitzende auf die im Saal herrschende Atmosphäre reagiert habe, herrschte Uneinigkeit. Die damaligen RCDSler bekräftigten, Dregger habe gewusst, was ihn erwarte, und von Anfang seiner Rede an ironisch darauf Bezug genommen. Ex-Jusos und -Spontis waren sich sicher, Dregger habe anfangs angenehm überrascht gewirkt, in der linken Frankfurter Universität mit Jubel empfangen zu werden, ja sich regelrecht geschmeichelt gefühlt von dem lauten Applaus. Einer Meinung war man wieder über den Punkt, dass Dregger trotz einer leistungsstarken Lautsprecheranlage seine Rede irgendwann abbrechen musste, weil er gegen den ironischen Jubel nicht ankam. Dass er zuvor allmählich merkte, wie die Veranstaltung wirklich lief, zusehends in Wut geriet und das Publikum dann als „Nachfolger der Nazis“ bezeichnete, spielte allerdings nur in der Erinnerung seiner Zuhörer aus den Bankreihen vor dem Podium eine Rolle (was sie, so ein Interviewpartner, ironisch mit „Zugabe, Zugabe“-Rufen quittierten)[9]. Selbst die Anekdote, dass Dregger nach Abbruch seiner Rede, zunächst wieder geschmeichelt angesichts der Autogrammwünsche, großzügig Unterschriften auf ihm hingehaltene Deutschlandfähnchen verteilte, wurde unterschiedlich bewertet. Auf Spontiseite vermerkte man, der Politiker habe sich erst nach einer gewissen Zeit erbost gezeigt, weil ihm nun klar geworden war, dass er von linken Protestierern (erneut) genasführt werden sollte. Einer der Organisatoren des RCDS gab zu, man sei besorgt gewesen, Dregger habe unbesehen ein gegen ihn zu verwendendes Dokument gezeichnet.

Die größten Differenzen traten bei der Frage zutage, wie Ablauf und Resultat der Veranstaltung insgesamt zu beurteilen seien – schon direkt im Nachgang. Der AStA wertete in einem weiteren Flugblatt vom Mai 1982 die von ihm initiierte Protestaktion als Erfolg; es sei gelungen, der Ablehnung der von Dregger vertretenen Politik kunstgerecht Ausdruck zu verleihen, ohne dass es dabei zu Gewalt gekommen sei.

Vorderseite des Flugblatts, mit dem der AStA den Ablauf der Veranstaltung mit Alfred Dregger resümiert. © privat


Demgegenüber äußerten sich die erwähnten Verfasser eines Leserbriefs in der FAZ[10] empört über die vermeintliche Infragestellung der „Redefreiheit an der Universität“; ähnlich kritisch hatte eine Studentin unter dem Motto „Auseinandersetzung unterbunden“ bereits in ihrem Leserbrief, ebenfalls an die FAZ, wenige Tage zuvor Stellung bezogen.[11] Ein unterschiedliches Echo fanden die Ereignisse des 18. Mai auch in den Medien. Der Moderator des „ZDF Magazins“, Gerhard Löwenthal, wertete sie in einem Beitrag seiner Sendung vom 19. Mai als „Lehrstück in Psychoterror“ und wünschte sich in seiner Abmoderation kaum verhohlen Prügel mit der Dachlatte für die Protestierer im H VI.[12] Die FAZ titelte missbilligend „Dregger von Studenten niedergejubelt“[13], während die Frankfurter Rundschau in ihrer Berichterstattung um einen neutralen Tonfall bemüht war („Jubel und Konfetti für ‚Alfred, Alfred‘“ hieß ihre Schlagzeile am nächsten Tag).[14] Die tageszeitung und das Stadtmagazin Pflasterstrand dagegen setzten mit „Himmel, war das eine Veranstaltung“ einen fast genießerisch klingenden Kommentar ab.[15] Im Rückblick mehr als 40 Jahre später sind die Differenzen unwesentlich geringer: Dies wird aus dem protokollierten Gespräch mit Ralf Heimbach und Thomas Pfeiffer deutlich, etwa bei der Frage, ob man den Gesichtsausdruck und die Haltung der Zuschauer und Zuhörer auf dem Foto als „fanatisch“ bezeichnen müsse oder nicht. Nicht unerwähnt bleiben soll allerdings ein Zugeständnis, das den Stadtteil-Historikern, die damals aufseiten des Sponti-AStA am „Applaus für Alfred Dregger“ beteiligt waren, mehrere Gesprächspartner mit RCDS-Vergangenheit machten: Trotz ihrer insgesamt kritischen Wertung der Jubelarie gaben sie zu, es habe sich dabei um eine intelligent eingefädelte, fantasievolle Aktion gehandelt. Auch die rückblickende Bewertung innerhalb der damaligen undogmatischen Linken selbst fällt übrigens differenziert aus: Sie reicht bis zur Behauptung, die Aktion gegen Dregger im Hörsaal VI habe ihm damals so weit geschadet, dass er die angestrebte absolute Mehrheit bei den Landtagswahlen vier Monate später verfehlte.

Zum Abschluss sei an einen weiteren Leserbrief erinnert, der als Reaktion auf den Jubel für Dregger im H VI unter dem Titel „Altsteinzeit“ am 26. Mai 1982 in der FAZ erschien. Der Verfasser holte darin zum Rundumschlag gegen den „akademische(n) Nachwuchs im Jahre 1982“ aus – „auf Kosten anderer studierend, verwöhnt, pflichtenlos, ungebunden wie nie zuvor“. Er bat, ein Foto Barbara Klemms, das schon im Lokalteil vom 19. Mai erschienen war,[16] „im Großformat“ zu zeigen. Zwecks Dokumentation, „was wir zu erwarten haben, wenn diese bedrohliche Meute in wenigen Jahren in Amt und Würden auf uns losgelassen wird.“ Sein Wunsch nach der Veröffentlichung im Großformat wurde ihm in der U-Bahnstation Bockenheimer Warte knapp viereinhalb Jahre später erfüllt. Die Frage, in welche Ämter und Würden die Mitglieder der „bedrohlichen Meute“ Einzug gehalten hatten, verfolgten die Stadtteil-Historiker 37 Jahre später. Sie fanden unter anderem: eine Hebamme, einen weiblichen Computer Systems Engineer bei einem amerikanischen Großkonzern, den Chef einer PR-Agentur, einen Inhaber eines IT-Beratungshauses, einen Sozialarbeiter, einen freien Lektor und Texter, einen weiteren Lektor und Übersetzer, den Geschäftsführer einer Filmstiftung, eine Angestellte beim Jugendamt der Stadt Frankfurt, einen Chief Information Security Officer bei einem Vermögensverwalter, einen Arzt und Psychotherapeuten, einen Inhaber einer Kreativagentur für das Design von Messeauftritten, einen Entwickler von Messapparaten für Fotovoltaikanlagen, zwei Steuerberater, den Inhaber einer Handelsschule zur Ausbildung in Steuer- und Wirtschaftsfragen in den neuen Bundesländern und einen Soziologieprofessor. Die Stadtteil-Historiker konnten den Leserbriefschreiber von damals leider nicht (mehr) ausfindig machen. Sie hätten gern seinen heutigen Kommentar zu ihren Rechercheergebnissen gehört.


[1] Mündlicher Bericht Barbara Klemm vom 18.4.2024.

[2] Vgl. etwa die auch im Kurzporträt Barbara Klemms erwähnte Ausstellung aus dem Jahr 2018, https://www.schirn.de/magazin/schirn_tipps/2018/kunst_der_revolte_revolte_der_kunst/, Zugriff am 15.7.2024.

[3] Vgl. https://archivblog.uni-frankfurt.de/2022/07/01/der-frauen-asta-der-frankfurter-universitaet-1976-77/ , Zugriff am 15.7.2024.

[4] Die beiden Organisatoren waren Thomas Pfeiffer und Ralf Heimbach. Das Gespräch mit ihnen am 28.8.2023 haben die Stadtteil-Historiker aufgenommen und dokumentiert. Laut Pfeiffer und Heimbach wurde das einst existierende Archiv des Frankfurter RCDS, aus dem eventuell weiteres Material hätte besorgt werden können, aufgelöst. (Mündlicher Bericht Thomas Pfeiffer und Ralf Heimbach vom 29.8.2023).

[5] Einige ehemalige Mitglieder der SHI, etwa Rupert Ahrens (mündlicher Bericht vom 6.3.2024), meinten, moderne Wahlkampfveranstaltungen (mit Luftballons und Fähnchen) wie in den USA hätten als Vorbild für den geplanten Jubel gestanden. Ein anderer einstiger SHIler (der nicht namentlich genannt werden möchte) meinte im Rückblick, die Bürgerrechtsbewegung im damals noch kommunistischen Polen habe Pate gestanden: Im Winter 1981/82 waren Vertreter der Undogmatischen Linken in das Nachbarland gefahren, über das kurz zuvor nach anhaltenden Protesten der Gewerkschaft Solidarność das Kriegsrecht verhängt worden war. Sie hatten dort Vertreter der in Opposition zum Regime stehenden Bürgerrechtler getroffen. Ihre Gesprächspartner berichteten von einer Protestaktion gegen Schauspieler, die mit dem Regime kollaborierten. Angesichts der Gefahr, von Spitzeln im Publikum denunziert zu werden, konnte man die Darsteller bei Aufführungen nicht offen ausbuhen. Also wurden sie, sobald sie auf der Bühne erschienen, bejubelt und beklatscht – so lange, bis sie selbst ihren Auftritt abbrachen.

[6] Die Zahl 2.000 scheint uns allerdings übertrieben, eine solche Menge von Menschen hätte der H VI nicht gefasst.

[7] Diese Angaben beruhen auf Gesprächen mit insgesamt 19 Personen, deren Namen und Kontaktdaten wir recherchieren konnten; wir führten sie zwischen dem 6.3.2023 und dem 16.7.2024.

[8] Gespräch mit Eva-Maria Neeb vom 7.5.2024 sowie Barbara und Gerd Krämer vom 17.5.2024. Der Leserbrief stammt vom 29.5.1982 aus der FAZ.

[9] In einem Mitschnitt der Sendung „ZDF Magazin“ vom 19.5.1982 ist die Äußerung „Nachfolger der Nazis“ deutlich zu hören.

[10] Vgl. FAZ vom 29.5.1982, S. 37.

[11] Vgl. FAZ vom 21.5.1982, S. 36.

[12] Mitschnitt des „ZDF Magazins“ vom 19.5.1982.

[13] Vgl. FAZ vom 19.5.1982.

[14] Vgl. Frankfurter Rundschau vom 19.5.1982, S.11.

[15] Vgl. taz vom 19.5.1982 und Pflasterstrand Nr. 133 vom 5. bis 18. Juni 1982.

[16] Vgl. FAZ – Zeitung für Frankfurt Nr. 115, S. 33. Das Foto dort unterscheidet sich nur minimal durch die Wahl eines etwa anderen Ausschnitts von der Aufnahme im U-Bahnhof Bockenheimer Warte.


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