Der Universitätschor probt Palestrina

Zum Zeitpunkt der Aufnahme „probten wir die vierstimmige Missa brevis a cappella von Giovanni Pierluigi da Palestrina als Vorbereitung für das Adventskonzert im Dezember 1985“.[1] So genau konnte sich Chorleiter Christian Ridil an die Entstehung des heute im U-Bahnhof Bockenheimer Warte ausgestellten Fotos erinnern – auch mehr als 37 Jahre nach dem Donnerstagabend, da Barbara Klemm zu einer der von ihm geleiteten Proben erschienen war. Dass die Fotografin vorbeischauen und Aufnahmen machen wollte, war ihm zum Beginn des Wintersemesters 1985/86 von einer im Akademischen Chor der Goethe-Universität mitwirkenden Studentin angekündigt worden. Ridil hatte bereitwillig seine Zustimmung erteilt, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau wusste, was mit den Fotos geschehen sollte. Als sich Barbara Klemm an besagtem Abend im Herbst 1985 beim Collegium musicum vocale einfand,[2] war die üblicherweise als Probenraum dienende Aula der Universität mit einer anderen Veranstaltung belegt. Ridil musste mit seinem Chor auf einen „akustisch wie von der Aufstellung her eigentlich völlig ungeeigneten Raum“ im Erdgeschoss des alten Hauptgebäudes an der Mertonstraße ausweichen. Nachdem Klemm hier einige Fotos „geschossen“ hatte, bat er sie, am nächsten Donnerstag erneut zur Probe in der Aula, dem „Schmuckkästchen“ der Universität, zu erscheinen. Was Barbara Klemm auch tat – ihre Wahl des Motivs für die U-Bahnstation fiel aber doch auf die Szene aus dem, so Ridil, „ziemlich schmuddeligen, weitgehend ungereinigten Hörsaal“ der Woche zuvor.


Schon kurze Zeit nach dem Fototermin wurde er darauf angesprochen, ob er „der Typ aus der U-Bahn“ sei. Er sah sich daraufhin die inzwischen an der Station Bockenheimer Warte veröffentlichte Aufnahme selbst an und war „völlig überrascht“ – nicht nur, dass der Chor überhaupt bei der Auswahl der Bilder berücksichtigt worden war, sondern auch über die Dimension des Fotos. „Dies war sicherlich für die verstärkte Wahrnehmung der Universitätsmusik sehr hilfreich“, ihre Rezeption sei bis dahin nicht sehr ausgeprägt gewesen, auch von der damaligen Universitätsspitze habe der Chor wenig Aufmerksamkeit oder Anerkennung erfahren. Ridil empfindet noch heute Dankbarkeit gegenüber Barbara Klemm für ihr Wirken.

Der Komponist, Musikwissenschaftler und Musikpädagoge mit Dirigierausbildung war 1984 an das Musikwissenschaftliche Institut der Goethe-Universität berufen worden. Neben seiner Aufgabe als Dozent mit den thematischen Schwerpunkten Harmonielehre, Kontrapunkt, Partiturkunde und Tonsatzanalyse widmete er sich von Anfang an dem Aufbau des universitätseigenen Chors und des darüber hinaus existierenden Orchesters.[3] Ridil erinnerte sich im Gespräch mit den Stadtteil-Historikern an die erste Orchesterprobe am 8. Mai 1984: Ihm gegenüber saß „ein verlorenes Häuflein“ von einigen Violinen und drei Klarinetten; zwei Tage später traf er auf einen kaum zahlreicher besetzten Chor.[4] In der bereits zitierten, ihm gewidmeten Festschrift berichtet Ridil, der Beginn seiner Tätigkeit sei von „unzumutbaren Begleitumständen“ überschattet gewesen, Übungseinheiten sollten etwa auf Vorschlag des Präsidialamts in ein „marodes Kino außerhalb der Universitätsaula“ verlegt werden.[5] Ihm gelang es dennoch nach und nach, beide Ensembles so weit zu entwickeln, dass sie in der Lage waren, eigene Konzerte (zum Abschluss des Semesters, zu Advent und Weihnachten) zu geben. Bereits im April 1985 wirkte eine Kammermusikgruppe aus dem Orchester z. B. bei den Feierlichkeiten zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an den Verleger Siegfried Unseld durch die Universität mit.[6] Der 1987 gegründete Kammerchor nahm in den Folgejahren an Musikwettbewerben teil und absolvierte zahlreiche Auftritte auf nationaler und internationaler Bühne sowie mehrere Rundfunk-, CD- und Fernsehaufnahmen.[7]

Chorleiter Christian Ridil mit musikalischem Norwegerpullover


Zwei der Sängerinnen, die wir auf dem Foto identifizieren konnten, sprachen die besondere Art an, in der Ridil Stücke proben ließ: zuerst immer für eine Stimme, z. B. den Sopran, die schwierigsten Stellen, an die sich nach und nach weitere Passagen davor und danach und weitere Stimmlagen anschlossen, bis schließlich das ganze Stück „stand“. Dies habe die Aufmerksamkeit aller durchgehend hochgehalten – ein Vorgehen, das beide in der Erinnerung noch Jahrzehnte danach sehr schätzten.[8] Auch andere Chormitglieder erwähnten in ihren Gesprächen mit uns den Enthusiasmus und die Begeisterung für die Musik, die ihnen Ridil während der Proben vermittelt habe.[9] Viele blieben nicht zuletzt wegen der didaktischen Fähigkeiten des Leiters Chor und Orchester viel länger als ursprünglich geplant treu und trafen sich auch über die Proben hinaus für gemeinsame Unternehmungen.[10]

In ihrem Beitrag zur Festschrift beschreibt Nora Eggers ein Collegium musicum als ein „locker strukturierte(s), der Universität angehörende(s) Ensemble“, das häufig „dem musikwissenschaftlichen Seminar assoziiert“[11] war. In Frankfurt war die Zusammensetzung von Universitätsorchester und -chor bunt gemischt: Neben Studentinnen und Studenten der Musikwissenschaften zählten musikbegeisterte Kommilitonen anderer Fachrichtungen, aber auch interessierte Nichtakademiker zu beiden Ensembles. Sie bestanden aus Laienmusikern, die früher z.B. in Schulorchestern mitgewirkt hatten oder zusätzlich in (Kirchen-)Chören sangen bzw. sie leiteten, oder aus ehemaligen Profis, die inzwischen andere Berufe ausübten, aber weiter musikalisch tätig sein wollten.[12] Astrid Hünlich etwa, eines der weiblichen Chormitglieder auf dem Foto, arbeitete in den 1980er Jahren als Sekretärin in einem Musikverlag (und später als Assistentin im Frobenius-Institut für Kulturanthropologische Forschung der Goethe-Universität); Konstantinos Kiourtsoglu, ein rechts in der zweiten Reihe unter den Bässen sitzender[13] griechischer Student, der in Athen mit dem Jurastudium begonnen hatte, hatte sich nach dem Wechsel nach Frankfurt dem Chor angeschlossen, um so mehr Kontakte außerhalb der kleinen griechischen Gemeinde zu bekommen (und führt heute eine Anwaltskanzlei in Düsseldorf); eine der mehrere Semester im Chor mitsingenden Sopranistinnen war VWL-Studentin (die nach dem Studium in kaufmännischen Berufen wirkte)[14].

Die Mehrzahl der von den Stadtteil-Historikern interviewten Chormitglieder studierte jedoch Musikwissenschaften, einige besuchten Mitte der 1980er Jahre zusätzlich die von Christian Ridil am Institut gehaltenen propädeutischen Seminare.[15] In der Musik fanden sie nach Studienabschluss auch ihren Beruf: Sven Müller-Laupert ist heute Leiter der Musikschule Hofheim[16]; Raphaela Matthias-Ridil war zunächst freie Mitarbeiterin bei hr Klassik, bis sie eine Festanstellung als Orchestermanagerin bzw. Marketingreferentin beim Südwestrundfunk fand.[17]; Monika Bathon leitet einen überregionalen Chor, gibt Musikunterricht und betreibt ein Therapiezentrum im Westerwald[18]; eine weitere der damaligen Chorsängerinnen bietet Kurse in einem Institut für Gesang- und Stimmtraining an. Auffällig ist die große Zahl von heutigen Journalistinnen und Journalisten, die auf dem Foto versammelt sind: Gleich drei (Karmen Mikovic, Martina Ebel und Martin Grunenberg) arbeiten in verschiedenen Redaktionen des Hessischen Rundfunks[19], Musik bildet einen ihrer Themenschwerpunkte. Heute als Mantelredakteur für die Ressorts Politik, Wirtschaft und Kultur der Frankfurter Neuen Presse zuständig ist Michael Dellith, der als Musikkritiker bei der Zeitung angefangen hatte.[20] Gregor Dotzauer schreibt als Literatur- und Musikkritiker für den Berliner Tagesspiegel.[21]


[1] Diese und die folgenden Angaben stammen aus einer E-Mail Christian Ridils vom 10.5.2023 und seinem mündlichen Bericht vom 22.8.2023.

[2] Die Chorproben fanden im Wintersemester 1985/86 jeweils donnerstagsabends zwischen 18.00 und 19.30 Uhr unter der Leitung von Ridil statt; das ebenfalls von ihm geleitete Orchester der Universität (s.u.) probte dienstags zur selben Zeit. Angekündigt wurden die Veranstaltungen unter der Überschrift „Für Hörer aller Fachbereiche“ im Vorlesungsverzeichnis der Goethe-Universität; (vgl. https://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/11089/file/1985_wv.pdf, S. 71/72, Zugriff am 6.7.2024).

[3] Vgl. „Zwischen Praxis und Theorie. Christian Ridil zum 75. Geburtstag“ (Festschrift des Collegium Musicum und des Musikwissenschaftlichen Instituts der Goethe-Universität Frankfurt sowie des Vereins Frankfurter Universitätsmusik e. V.), o. O., o. J, S. 23. 1994 erhielt Ridil den Titel Universitätsmusikdirektor. Im Jahr 2008 emeritiert, wurde er 2010 zum Doctor philosophicae honoris causa in Frankfurt ernannt (vgl. ebenda, S. 25).

[4] Mündlicher Bericht Christian Ridil vom 22.8.2023.

[5] „Zwischen Praxis und Theorie“, a.a.O., S. 87.

[6] Mündlicher Bericht Monika Bathon vom 14.9.2023 und Martina Ebel vom 28.9.2023. Beide waren im Jahr 1985 Orchestermitglieder. Zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an Unseld vgl. Uni-Report vom 8.5.1985, S. 3, https://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/39880/file/Unireport_1985_05_08.pdf, Zugriff am 8.7.2024.

[7] Vgl. „Zwischen Praxis und Theorie“, a.a.O., S. 121/122.

[8] Mündlicher Bericht Karmen Mikovic vom 22.9.2023 und Astrid Hünlich vom 25.9.2023.

[9] Zum Beispiel Sven Müller Laupert am 17.5.2023 oder Konstantinos Kiourtsoglou im Interview am 14.11.2023.

[10] Mündlicher Bericht Monika Bathon vom 14.9.2023; sie berichtete den Stadtteil-Historikern auch von engeren Freundschaften, die aus der Gruppe heraus entstanden seien. Karmen Mikovic (Bericht vom 22.9.2023) hat noch bis heute mit einigen Leuten zu tun, die sie damals bei den Proben kennenlernte, wollte aber nicht so weit gehen, den Chor als „Familie“ oder „Club“ zu bezeichnen.

[11] Vgl. „Zwischen Praxis und Theorie“, a.a.O., S. 45.

[12] Auf die Tatsache, dass das Collegium Musicum der Goethe-Universität ein Laienensemble sei, wies Christian Ridil im Gespräch am 22.8.2023 ausdrücklich hin.

[13] Karmen Mikovic, auf dem Foto ganz rechts in der ersten Reihe, beschrieb den Stadtteil-Historikern im Gespräch am 22.9.2023 die Verteilung der Chormitglieder nach Stimmlagen: in der ersten Reihe links die Frauen mit den Sopran- und rechts mit den Altstimmen, in der zweiten Reihe hinter den Sopranistinnen die Tenöre und rechts die Bässe.

[14] Schriftliche Antwort auf einen zugesandten Fragebogen vom 1.7.2023; wollte namentlich nicht genannt werden.

[15] Für das Wintersemester 1985/86 finden sich im Vorlesungsverzeichnis der Goethe-Universität „Harmonielehre I“, „Harmonielehre II“, „Einführung in die musikal. Analyse“ und „Tonsatzanalyse“ als Übungen mit Ridil als Dozent (vgl. https://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/11089/file/1985_wv.pdf, S. 71, Zugriff am 4.7.2024).

[16] Mündlicher Bericht Sven-Müller Laupert vom 17.5.2023; vgl. „Mit einer Blockflöte fing alles an“, Frankfurter Rundschau vom 12.1.2023, https://www.fr.de/rhein-main/main-taunus-kreis/hofheim-ort74520/mit-einer-blockfloete-fing-alles-an-92024977.html, Zugriff am 4.7.2024.

[17] Mündlicher Bericht Raphaela Matthias-Ridil vom 22.8.2023.

[18] Mündlicher Bericht Monika Bathon vom 14.9.2023.

[19] Mündlicher Bericht Karmen Mikovic vom 22.9.2023 und Martina Ebel vom 28.9.2023. Mit Martin Grunenberg, der uns von beiden als Chormitglied auf dem Foto genannt wurde, konnten wir persönlich kein Gespräch führen.

[20] Mündlicher Bericht Michael Dellith vom 13.5.2024.

[21] Dotzauer wurde uns von Christian Ridil genannt. Mit ihm kam ebenfalls kein persönliches Gespräch zustande.