Wie tröstlich und ermutigend muss es für einen um die Zukunft des akademischen Nachwuchses besorgten Betrachter gewesen sein, in den 1980er Jahren das Foto aus der alten Universitätsbibliothek am Ende der Bockenheimer Landstraße zu sehen! Eine Gruppe von knapp 20 wissenschaftlichen Assistenten, Studentinnen und Studenten, die allesamt in höchster Konzentration über ihre Bücher oder Manuskripte gebeugt lesen, exzerpieren und schreibend formulieren: Wie eine Oase der Ruhe inmitten der in den 1970er und 1980er Jahren als notorisch unruhig verschrienen Frankfurter Universität wirkt der große, voll besetzte Lesesaal, den Barbara Klemm im Mai 1986[1] für die Fotoserie im U-Bahnhof Bockenheimer Warte eingefangen hat.

Natürlich kamen Studentinnen und Studenten auch schon Mitte der 1980er Jahre, teilweise sogar von außerhalb der Stadt, in die Universitätsbibliothek, um zum Beispiel an Diplom- oder Magisterarbeiten zu schreiben. Zum einen, weil sie – wie uns das eine unserer Interviewpartnerinnen[2] für die damalige Zeit bestätigte – die herrschende (Arbeits-)Atmosphäre als sehr angenehm empfanden. Hier sei man nicht, wie zu Hause, von anderen Aufgaben oder Zerstreuungen abgelenkt worden. Es sei „mucksmäuschenstill“ und Essen und Trinken am Arbeitsplatz „wie heute“ damals (noch) nicht üblich gewesen. Die Studentin der Romanistik mit den Nebenfächern Lateinamerikanistik, Frankofonie, Italienisch und Ethnologie stellte während des Frühjahrs und Sommers 1986 im Lesesaal große Teile ihrer Magisterarbeit zum Thema „Sprachpolitik in der Frankofonie Schwarzafrikas am Beispiel Kamerun“ fertig. Zwar hatte sie am Tag, als Barbara Klemm in die Bibliothek kam, die Fotografin flüchtig wahrgenommen, wusste aber nicht, zu welchem Zweck die Aufnahmen entstanden. Als sie einige Zeit später von einem Studenten auf dem Campus darauf angesprochen wurde, ihr Konterfei werde auf einer großen Plakatwand in der U-Bahnstation ausgestellt, war sie zunächst vollkommen überrascht. Nach einigen Bedenken, sich selbst in der Öffentlichkeit zu sehen („ich bin keine Rampensau“), fühlte sie sich doch ein wenig geschmeichelt und ließ sich später gar neben dem Foto stehend von ihrer Nichte ablichten. Im Rückblick sieht sie die Jahre, in denen sie studierte und Examen machte, als bewegte, interessante Zeit und kann sich zum Beispiel noch an Hörsaalbesetzungen an der Goethe-Universität erinnern. Nach dem Studium legte sie ihre beruflichen Pläne für eine Dolmetscherinnentätigkeit schnell ad acta und arbeitete zunächst einige Jahre in Marketing und Vertrieb von Unternehmen, wo ihr ihre Sprachkenntnisse zugutekamen. Nach einer Zwischenstation als Freiberuflerin wechselte sie schließlich in die Vorstandsverwaltung der IG Metall, wo sie bis zu ihrem Vorruhestand aktiv war.
Auch wenn es sich nicht um Abschlussarbeiten handelte, nutzten Studenten und Studentinnen die Universitätsbibliothek, um sich hier auf Seminare vorzubereiten bzw. Referate oder Hausarbeiten zu verfassen. Aber ihre Erinnerungen waren, wie im Fall unserer Gesprächspartnerin Martina Otto[3], die während des Studiums aus ihren Wohnungen im Nordend bzw. in Bad Soden häufig in die Universitätsbibliothek kam, nicht immer unbedingt mit dem Arbeitsaspekt verbunden: Die damalige Studentin der Kunstgeschichte, Geschichte und Germanistik erzählte den Stadtteil-Historikern zum Beispiel die Geschichte einer Gruppe von palästinensischen Studenten der Zahnmedizin, die regelmäßig den Lesesaal besuchten und in den Pausen Gesprächsrunden bildeten, in die sie bald einbezogen wurde. Martina Otto hatte Barbara Klemm am fraglichen Tag gar nicht bemerkt; sie konnte sich auch zum Zeitpunkt unseres Gesprächs nicht mehr daran erinnern, wann sie später zum ersten Mal auf das Foto aufmerksam wurde. Versichern konnte sie uns allerdings, dass sie es 2022 ihrer erwachsenen Tochter zeigte, und dass sie es auch heute noch als Zeitdokument am richtigen Platz findet. Wie bei so vielen unserer Gesprächspartner verlief ihre Berufskarriere, u.a. mit Stationen im Taunus, in Bremen und Frankfurt, sehr bewegt: der Arbeit in einem wissenschaftlichen Antiquariat folgen Bürotätigkeiten in verschiedenen Unternehmen und Kanzleien, acht Jahre lang die kaufmännische Betriebsführung in einem neu gegründeten Windparkunternehmen (bei der ebenfalls Sprachkenntnisse besonders gefragt waren), das Office Management in einer Personalberatung und schließlich die Arbeit als Teamassistentin bei einem Wirtschaftsprüfer im Frankfurter Westend.

Martina Otto im Jahr 2023
Eine Besonderheit der Einrichtung des Komplexes an der Bockenheimer Landstraße, der wie der Biologie-Campus und ein Großteil des Universitätsgeländes in Bockenheim von Ferdinand Kramer geplant worden war, nutzten zwei wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, um die Lesesäle aufzusuchen: die Ausstattung nach angelsächsischem Vorbild mit „ausgedehnte(n) Handbibliotheken“[4] – von denen eine im Hintergrund über die ganze Breite des Fotos zu sehen ist. Der schnelle, unkomplizierte Zugriff auf die Bände aus diesen Handbibliotheken erleichterte ihnen die eigene Arbeit in starkem Maße: etwa bei der Konsultation der Abstracts von Artikeln aus Fachmagazinen und anderen wissenschaftlichen Publikationen – um sich bei der Erarbeitung von Projektthemen und in der Diskussion von Forschungsergebnissen auf den neuesten Stand zu bringen oder Forschungshypothesen zu verifizieren. Bei einer der zwei am Fachbereich Biologie angesiedelten Jungakademikerinnen (die nicht auf Interviewanfragen antwortete) konnten wir nur ermitteln, dass sie heute u.a. eine kleine Ferienunterkunft inmitten der okzitanischen Weinberge betreibt. Gesichert ist, dass ihre Freundin und Kollegin bis heute der Wissenschaft treu geblieben ist.[5] Schon während des Studiums hatte sie als Tutorin gearbeitet, nach dem Diplom[6] im Jahr 1984 erhielt sie eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Biologischen Institut – hier erwarb sie u.a. das Know-how zur Formulierung von Anträgen für neue Forschungsprojekte, das sie später sehr gut nutzen konnte. Auch dafür bildeten die Recherchen in der Bibliothek, in der sie nach eigenen Worten sehr viel Zeit verbrachte, die Grundlage. In der Erinnerung an die Stunden dort rief sie im Gespräch den „ganz eigenen Geruch“ auf, den die unzähligen Bücher und sonstigen Druckerzeugnisse verströmten. 1990 wechselte sie in den „Technologietransfer“ der Goethe-Universität – eine Einrichtung, die sich verstärkt darum bemühte, hochschuleigene Forschungsergebnisse und Entwicklungen patentieren zu lassen, eigene Produkte in Kooperation mit Unternehmen für die Praxis nutzbar zu machen und zu vermarkten und so Einnahmen für die Universität zu generieren. Zusätzlich übernahm sie die Beratung von Forschern, die sich bei internationalen Ausschreibungen bewarben. Weitere Stationen ihrer Karriere waren die Stelle der persönlichen Referentin des Präsidenten der Universität Bayreuth, die Arbeit an der Koordinierungsstelle der EU für Wissenschaftsorganisationen in Brüssel, eine neue Stelle an der Goethe-Universität für die Beratung von Forschern in EU-Fragen und ein privates Büro, das EU-Referenten anderer Hochschulen ausbildete und Beratung zur Einwerbung von Forschungsmitteln anbot. Bereits seit 2001 arbeitete sie zudem mit am Projekt „Nationale Kontaktstelle Lebenswissenschaften“. Privat malt und fotografiert sie semiprofessionell, beteiligt sich an künstlerischen Aktionen und Installationen auf nationaler und europäischer Ebene oder gestaltet künstlerisch ein Kinderbilderbuch.
Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts war die Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, so der offizielle Name, immer noch am Standort an der Bockenheimer Landstraße beheimatet. Zwischenzeitlich schien es aber so, als seien ihre Tage dort – so wie die fast aller anderen universitären Einrichtungen auf dem alten Campus – gezählt. Der erste Bauabschnitt für ein neues Bibliotheksgebäude auf dem Westend-Campus sei bereits geplant, wurde den Stadtteil-Historikern in einem Gespräch während ihrer Recherchen berichtet.[7] Der Umzug der riesigen Bücherbestände schien absehbar. Damit wäre auch das Foto in der U-Bahnstation Bockenheimer Warte endgültig zu einem rein historischen Dokument geworden. Ob es wirklich so weit kommt, ist (neuester Stand: Januar 2025) jedoch längst nicht mehr gesichert. Vor allem aufgrund der noch nicht endgültig festgeklopften Finanzierung des Neubaus sei nun eher davon auszugehen, dass der Büchertempel auf absehbare Zeit am alten Standort bleiben müsse.[8] Frankfurts Hochschulangehörige werden also, wenn sie Ruhe fürs Erarbeiten ihrer wissenschaftlichen Arbeiten suchen, weiterhin nach Bockenheim pilgern müssen.
[1] Persönliche Aufzeichnungen Barbara Klemm.
[2] Mündlicher Bericht vom 13.3.2023. Die Interviewpartnerin wollte nicht namentlich genannt werden.
[3] Mündlicher Bericht Martina Otto vom 22.6.2023.
[4] Vgl. Ferdinand Kramer. Die Bauten – The Buildings of Ferdinand Kramer, Katalog zur Ausstellung „Linie Form Funktion. Die Bauten von Ferdinand Kramer“ vom 28. November 2015 bis 1. Mai 2016 im Deutschen Architekturmuseum, Tübingen Berlin 2015, S. 154.
[5] Alle folgenden Aussagen laut mündlichem Bericht vom 5.6.2023. Auch diese Gesprächspartnerin wollte nicht namentlich genannt werden.
[6] Hermann Schweizer, der auf dem Foto aus dem biologischen Forschungslabor mit seinen zwei Kollegen zu sehen ist, war laut ihrer Aussage in einer ihrer mündlichen Diplomprüfungen Beisitzer.
[7] Mündliche Auskunft Matthias Lutz-Bachmann vom 13.3.2023.
[8] Vgl. „Neubau von Frankfurter Unibibliothek rückt in weite Ferne“, FAZ vom 6.1.2025, https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/unibibliothek-frankfurt-neubau-rueckt-in-weite-ferne-110213946.html, Zugriff am 30.1.2025.