Lehre an der Bettkante. Eine Szene aus der Universitätsklinik

Bei der Auswahl von Motiven aus dem Alltag der Universität beschränkte sich Barbara Klemm keineswegs auf das zentrale Gelände der Hochschule zwischen Bockenheimer Warte, Gräfstraße, Robert-Mayer-Straße und Senckenberganlage. Neben den Chemikern und dem Sportcampus stattete sie z.B. im November 1985[1] auch den Medizinern am Theodor-Stern-Kai in Sachsenhausen einen Besuch ab. Dort hielt im Wintersemester 1985/86 der Kinderarzt und Neonatologe Volker von Loewenich mit Kollegen zusammen Vorlesungen zur Kinderheilkunde.[2] Damit verbunden waren Übungen, die – hier waren von Loewenichs Angaben sehr bestimmt[3] – im Hauptgebäude der Kinderklinik auf der damaligen Station 110 (heute 32.c) stattfanden. Um sie möglichst praxisnah zu gestalten, durften die teilnehmenden Studentinnen und Studenten zusammen mit ihrem Dozenten die Zimmer der Patienten, hier des Säuglings, aufsuchen, um dort unmittelbar Behandlungsschritte demonstriert zu bekommen. Diese Methode, so erläuterte es Volker von Loewenich den Stadtteil-Historikern, wird bedside teaching genannt – was man (etwas frei) mit „Lehre an der Bettkante“ übersetzen kann.


Barbara Klemm und der renommierte Pädiater kannten sich bereits von der Zusammenarbeit für Publikationen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. In ihrem Rahmen hatte von Loewenich für eine Aufnahme der Fotografin den sogenannten Landau-Reflex[4] am eigenen, damals zehn Monate alten Sohn demonstriert (der zuvor von Klemm kritisch wegen seiner Eignung für die Aufnahme begutachtet worden sei). Für den Fototermin in seinem Kurs an der Universitätsklinik hatte sich Barbara Klemm zuvor ankündigen lassen; die Zustimmung der abgebildeten Studentinnen und Studenten zur Veröffentlichung der Aufnahme war eingeholt worden.[5] Dennoch, so berichtete es die Fotografin in ihrem Gespräch mit den Stadtteil-Historikern, habe der Ehegatte einer der abgebildeten Medizinerinnen später bei der Stadt gegen die Veröffentlichung der Fototafel mit seiner Frau protestiert. Sein Ansinnen, sie aus dem U-Bahnhof zu entfernen, sei allerdings abgewiesen worden.[6]

Nach dem Studium in Erlangen und Wien sowie einer Stelle als Wissenschaftlicher Assistent in Erlangen kam von Loewenich 1966 an das Universitätsklinikum Frankfurt. Seit 1972 war er Leiter der Abteilung Neonatologie, seit 1973 ordentlicher Professor. Er war Gründungsmitglied und von 1981 bis 1985 Vorsitzender der Deutschen, später Deutsch-Österreichischen Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin und mehrere Jahre Präsident der Deutschen Gesellschaft für Perinatalmedizin. Auch nach seiner Emeritierung im Jahr 2002 war von Loewenich weiterhin regelmäßiger Teilnehmer an medizinischen Kongressen und widmete sich bis 2014 der Beratung von Eltern Neugeborener; aktiv blieb er außerdem mit der Mitwirkung in einem Orchester und dem Interesse für Fotografie.[7]

Vorlesungen und Übungen zu Kinderheilkunde und Gynäkologie, so weisen es die Vorlesungsverzeichnisse der Universität aus, hielt er während der 1980er Jahre über mehrere Semester. Namen einzelner unter den Hunderten Studentinnen und Studenten, die seine Lehrveranstaltungen durchliefen, waren ihm zum Zeitpunkt des Gesprächs mit den Stadtteil-Historikern nicht mehr präsent, auf dem Foto konnte er nur eine Person identifizieren – seine damalige Assistentin, eine junge, aus Peru stammende Medizinerin (sie arbeitete zum Zeitpunkt der Recherchen für unser Projekt 2023/24 in einer Hausarztgemeinschaftspraxis in Nordrhein-Westfalen).

Den Stadtteil-Historikern ist es gelungen, zwei weitere Protagonisten auf dem Foto ausfindig zu machen und mit ihnen Gespräche zu führen. Sie gehörten zu einer Gruppe, deren Mitglieder sich auch außerhalb der Vorlesungen und Seminare trafen, um zusammen zu lernen. Nach dem Ende des Studiums seien die Kontakte allerdings komplett abgebrochen, so einer der zwei Interviewpartner. Er war schon vor der Zeit an der Universität Medizinischer Technologe MTR und jobbte während des Studiums in der Radiologie. Nach dem Praktischen Jahr am Klinikum Frankfurt-Höchst arbeitete er zunächst sieben Jahre als Chirurg – bis er in die Qualitätssicherung wechselte, seine Hauptaufgabe bestand in der Entwicklung und Begleitung von Zertifizierungen für Einrichtungen des Gesundheitswesens als TÜV-Auditor. Zum Zeitpunkt des Interviews hatte er noch eine Halbtagsstelle in der Qualitätssicherung inne. Auf das Foto an der Bockenheimer Warte wurde er irgendwann von einem Bekannten aufmerksam gemacht und schaute es sich dann auch persönlich an – konnte sich aber, als er von den Stadtteil-Historikern darauf angesprochen wurde, zunächst nicht mehr daran erinnern, dass ein Säugling den Mittelpunkt des Interesses der abgebildeten Gruppe bildete. Erst als im Gespräch von unserer Seite die Aussage fiel, die Identität des kleinen Patienten auf dem Bild herauszufinden sei uns ein besonderes Anliegen, aber wohl trotz all unserer Bemühungen zum Scheitern verurteilt, meinte er: „Ach ja, klar, da war ja auch das Kleinkind.“[8]

Der zweite Mediziner, den wir im Lauf der Recherchen befragen konnten, Dr. Lothar Böckler, blieb nach seiner Frankfurter Schulzeit in seiner Heimatstadt, um dort Medizin zu studieren. Zum Zeitpunkt, als das Foto entstand, war er Student in den klinischen Semestern im Fach Humanmedizin. Über das Jahr, in dem er sein zweites Staatsexamen ablegte, war er sich im Gespräch nicht mehr absolut sicher, er datierte es auf 1987 oder 1988. Sein Praktisches Jahr[9] absolvierte er am Kreiskrankenhaus Bad Soden, wo er auch seine erste Stelle in der Urologieabteilung bekam. Weitere Stationen waren für ihn das Alice-Hospital in Darmstadt und die Unikliniken in Gießen und Frankfurt. Heute ist er Facharzt für Allgemein- und Sportmedizin an der Sportklinik Frankfurt. Dass das Foto an der Bockenheimer Warte zu sehen ist, erfuhr er seinen Worten zufolge aus der Tagespresse; da er weiterhin in Frankfurt wohnt, bekommt er es auch heute noch öfter zu Gesicht. Die Form der öffentlichen Bebilderung von universitärer Geschichte findet er „ansprechend, da authentisch“[10].

Unter eine andere Kategorie als die der Hochschulhistorie fiel die Aufnahme der um den verkabelten Säugling versammelten Jungmediziner in der großen Ausstellung mit Werken Barbara Klemms im Historischen Museum Frankfurt: Hier hing sie neben Fotos eines Drechslermeisters oder aus den Farbwerken Hoechst als Beispiel für eine Szene zum Thema „Arbeit“.[11]


[1] Mündlicher Bericht Barbara Klemm vom 22.5.2024.

[2] Befragt zur Entstehung des Fotos, konnte Professor von Loewenich den Stadtteil-Historikern aus der Erinnerung kein Datum nennen. Im Wintersemester 1985/86 hielt er sowohl Vorlesungen zur Kinderheilkunde als auch zu Gynäkologie und Geburtshilfe (vgl. Vorlesungsverzeichnis der Goethe-Universität vom WS 1985/96, https://publikationen.ub.uni-frankfurt.de/opus4/frontdoor/deliver/index/docId/11089/file/1985_wv.pdf, Zugriff am 27.5.2024). Einer der interviewten Studenten von damals allerdings (der in unserer Dokumentation nicht namentlich genannt werden möchte), versicherte uns, die auf dem Foto zu sehende Gruppe habe sich im Rahmen des „Pädiatrie-Blockkurses“ zusammengefunden.

[3] Mündlicher Bericht Volker von Loewenich vom 27.4.2023.

[4] Der Test auf diesen Reflex ist Teil der Vorsorgeuntersuchung bei Säuglingen. Was es mit ihm auf sich hat, wird u.a. hier erklärt: https://flexikon.doccheck.com/de/Landau-Reflex, Zugriff 27.05.2024.

[5] Mündlicher Bericht Volker von Loewenich vom 27.4.2023, schriftliche Antwort auf einen Fragebogen der Stadtteil-Historiker durch Dr. Lothar Böckler vom 31.8.2023.

[6] Mündlicher Bericht Barbara Klemm vom 18.4.2024.

[7] Mündlicher Bericht Volker von Loewenich vom 27.4.2023. Die Stadtteil-Historiker begegneten ihm persönlich bei einem Besuch der Ausstellung mit Werken Barbara Klemms im Historischen Museum („Barbara Klemm – Frankfurt Bilder. Ausstellung im Historischen Museum Frankfurt, 9. November 2023).

[8] Mündlicher Bericht vom 27.3.2024, Interviewpartner möchte nicht namentlich genannt werden.

[9] Laut Böckler gehörte er zum letzten Jahrgang, für den noch das Praktische Jahr verpflichtend war. Heute sei für Mediziner in der Ausbildung das sogenannte „Arzt oder Ärztin im Praktikum“ vor der endgültigen Approbation verpflichtend, aus seiner Sicht „keine neue Ausbildungs-, sondern eine neue Ausbeutungsvariante“, da die jungen Ärztinnen und Ärzte in diesem Abschnitt die gleichwertige Arbeit eines voll ausgebildeten Kollegen bei wesentlich schlechterer Bezahlung leisten müssten.

[10] Schriftliche Antwort auf einen Fragebogen der Stadtteil-Historiker durch Dr. Lothar Böckler vom 31.8.2023

[11] Das Foto ist allerdings nicht im Ausstellungskatalog (Barbara Klemm – Frankfurt Bilder. Katalog zur Ausstellung im Historischen Museum Frankfurt, 9. November 2023 bis 1. April 2024. Göttingen 2023) enthalten.