Der Student, der da ganz locker neben einer Gasflasche auf zwei Drehstühlen sitzt und einige Papiere durchsieht, gehört zu den Protagonisten auf den Fotos von Barbara Klemm, die die Stadtteil-Historiker zunächst nicht identifizieren konnten. Über den Ort der Aufnahme allerdings bestand von Anfang kein Zweifel: Es ist einer der Räume in den Chemischen Instituten auf dem Riedberg. Dies bestätigte während unserer anfänglichen Recherchen bereits eine Chemiestudentin, die in ihrer Zeit an der Goethe-Universität die dortigen Labors regelmäßig besucht hatte und die Ausstattung der Räumlichkeiten auf dem Foto wiedererkannte.[1] Als im Herbst 2025 ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über die Nachforschungen zur Geschichte der gesamten Fotoserie erschien (https://zeitung.faz.net/data/457/reader/reader.html?social#!preferred/0/package/457/pub/568/page/53/content/67660, Zugriff am 23.10.2025), erhielten die Stadtteil-Historiker schließlich auch den Hinweis auf den Namen des Porträtierten.

Es handelt sich um Frank Löhr, einen Studenten der Chemie, der im Wintersemester 1985/86 am Niederurseler Hang das Praktikum Physikalische Chemie absolvierte. In der Szene auf dem Foto studiert er gerade die Anleitung für einen Versuch zur Gasanalyse, der in dem Laborraum stattfinden soll. Löhr hatte an diesem Tag zwar bemerkt, dass über Stunden in den Chemischen Instituten fotografiert wurde, aber es nicht bewusst wahrgenommen, dass Barbara Klemm ihn in seinem Labor abgelichtet hatte. Daher dauerte es nachher auch einige Zeit, bis ihm durch einen Hinweis von Freunden klar wurde, dass er nun im öffentlichen Raum an der Bockenheimer Warte zu sehen war. Im Jahr 1990 schloss er sein Diplomstudium ab und ließ, inzwischen in die Gebäude der Biophysik der Goethe-Universität in Niederrad gewechselt, seine Promotion folgen. Bis zum Tag unseres Gesprächs mit ihm (am 23. Oktober 2025) war Frank Löhr wissenschaftlicher Mitarbeiter der Goethe-Universität, Anfang der 2020er Jahre war er z. B. als sogenannter Research Scientist an Forschungen des Covid-NMR-Konsortiums beteiligt. NMR steht für Nuclear magnetic resonance, das Fachgebiet Löhrs. Mit dem Verfahren können u. a. Viren untersucht werden, um im nächsten Schritt Wirkstoffe gegen sie zu entwickeln.
Als Barbara Klemm 1985 ihre Exkursion zu den Chemikern unternahm, um dort weitere Fotos aus dem Universitätsalltag der Naturwissenschaftler aufzunehmen, firmierte die Gegend um das Institut noch nicht unter „Riedberg“ wie wenige Jahre später. Die Chemischen Institute waren das einzige Projekt einer in den 1960er Jahren geplanten zweiten Frankfurter Universität, das man bis 1972 realisiert hatte. Einst unter dem Namen „Campus Niederursel“ aus der Taufe gehoben, wurde die Idee Ende der 1970er wieder fallen gelassen. Die Gebäude der Chemiker blieben lange die einzige Außenstelle der alten Goethe-Universität im Nordwesten Frankfurts. Löhr hat sie als „Betonklötze“ und „fürchterliche 70er-Jahre-Bauten“ in Erinnerung, deren Infrastruktur lange Zeit nur rudimentär entwickelt war. Eine Mensa z. B. gab es nicht, in der Mittagspause mussten sich Lehrende und Lernende mit fertig verpackten Essensrationen aus einem im Keller gelegenen Lagerraum versorgen. Darüber hinaus lagen die ansonsten kaum bebauten Flächen vom restlichen Frankfurter Stadtgebiet relativ isoliert, die Chemiker waren schlecht an den öffentlichen Nahverkehr angebunden (die U-Bahnlinie U8 fährt erst seit dem Jahr 2010 den Riedberg an). Da er nicht von der Haltestelle der Linie U3 aus mühsam den Hügel hinauf zu den Chemikern steigen wollte, nahm Löhr immer die holprige Anfahrt per Auto auf einem nicht asphaltierten Feldweg in Kauf. Erst ab den 1990er Jahren kamen allmählich bauliche Einrichtungen für die anderen naturwissenschaftlichen Fachbereiche auf dem jetzigen Riedberg hinzu.[2] Von einer „Exkursion“ der Fotografin auf den Niederurseler Hang zu sprechen, ist für die Zeit Mitte der 1980er Jahre also durchaus angemessen.
Kürzere Wege bedeuteten zwei Aufnahmen vom Bockenheimer Campus für Barbara Klemm – beide entstanden laut ihren Angaben ebenfalls in der Zeit nach der Auftragsvergabe durch die Stadt, beide sind Beispiele ihres „genauen Blick(s) für Momente“, von dem in ihrem Kurzporträt die Rede ist. Bei beiden blieben die Stadtteil-Historiker bis zum Jahr 2025 mit ihrer Recherche zu Namen und Lebensgeschichten der Personen auf den Fotos leider erfolglos.
Die Orte, an denen sie entstanden, konnten wir allerdings mühelos identifizieren. Den Blick in die Cafeteria z. B. richtete Barbara Klemm von dem begrünten Karree aus, das zwischen der Rückfront des damaligen Philosophicums und dem alten Sozialzentrum auf dem Bockenheimer Campus der Goethe-Universität liegt.

In die entspannt wirkende Kaffeepausenszene scheint nur der Schnorrer im rechten Bilddrittel nicht ganz zu passen, der den gelangweilt-desinteressiert wirkenden Studenten am Tisch die Hand entgegenstreckt. Stadtstreicher und Schnorrer, die auf dem alten Bockenheimer Campus einen verhältnismäßig sicheren Zufluchtsort gefunden hatten und kaum behelligt wurden, bildeten dort eine zwar kleine, in der Besetzung häufig wechselnde, aber nie zu übersehende Gruppe von Dauerbewohnern.[3] Sie waren damit nicht zuletzt auch ein nicht zu vernachlässigendes Symbol für die enge „Verzahnung“ zwischen Hochschule und Stadtteil, von der Klaus Ronneberger in einem Beitrag über die Geschichte des Umzugs der Goethe-Universität von Bockenheimer ins Westend spricht.[4]
Eine entspannte Pausenszene präsentiert sich der Betrachterin und dem Betrachter auch mit dem Motiv, das Barbara Klemm nur wenige Meter vom Sozialzentrum entfernt eingefangen hat. Die Studentinnen und Studenten sitzen vor und unter den Kolonnaden des alten Studentenhauses an der Jügelstraße.

Die im Hintergrund zu erkennenden Fenster gehören zum großen Raum des KOZ – das Kommunikations-Zentrum wurde von einem Kollektiv betrieben, das tagsüber Getränke und Snacks zu niedrigen Preisen anbot und den Raum abends häufiger für politische und kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung stellte.
[1] Gespräch Mareike Machleid am 22.7.2024.
[2] Vgl. https://aktuelles.uni-frankfurt.de/campus/spatenstich-fuer-neubau-der-chemischen-institute-auf-dem-campus-riedberg/ und https://aktuelles.uni-frankfurt.de/campus/vom-frueheren-campus-niederursel-zur-heutigen-science-city/, Zugriff am 20.8.2024.
[3] So die Erinnerung eines der zwei Stadtteil-Historiker, der zum Ende seines Studiums ab 1983 in einem Raum des Sozialzentrums arbeitete und an seiner Arbeitsstelle regelmäßig kurze Besuche einiger dieser Campusbewohner verzeichnete.
[4] Vgl. Klaus Ronneberger, Wissens-Räume. Architektur und Hochschulpolitik in Frankfurt, in: Sabine Bitter, Helmut Weber (Hrg.), Bildungsmoderne entzaubern, Hamburg und Graz 2021, S. 49–67; hier S. 65.